Rezension „Warum hast du uns das angetan?“ von Chris Paul

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Rezension „Warum hast du uns das angetan?“ von Chris Paul

Es ist immer schwer zu akzeptieren, dass ein geliebter Mensch gestorben ist. In manchen Situationen ist es einfacher, wenn der Angehörige zum Beispiel schon sehr betagt oder lange krank war, in anderen Fällen hingegen – jemand stirbt sehr jung oder ganz plötzlich durch einen Unfall – ist es sehr viel schwerer, sich mit dem Tod auszusöhnen. Und am schwierigsten ist es wohl für die meisten Menschen, wenn der Verstorbene von eigener Hand gestorben ist, sich also das Leben genommen hat.
Mit dieser Situation beschäftigt sich das Buch von Chris Paul, die Sozialpsychologin ist und die Situation aus eigenem Erleben kennt: Ihr Lebenspartner hat sich das Leben genommen. Sie weiß also auch aus der Sicht einer Betroffenen, was in solch einer Situation in den Menschen vorgeht. Sie schildert sehr einfühlsam die Gedanken und die innere Zerrissenheit, die eine Selbsttötung eines Menschen in den Menschen auslöst, die dem Verstorbenen nahe gestanden haben, und zeigt auf, dass bei einem Tod durch Suizid die Themen Schuldgefühle und Scham eine große Rolle spielen.

Fokus auf die Aufgaben in der Trauerarbeit

Die Autorin konzentriert sich in ihrem Buch nicht auf das konventionelle Modell der Trauerphasen, sondern auf die Aufgaben, die in der Trauerphase zu bewältigen sind. Sie stützt sich dabei auf das Modell von William Worden, der vier Aufgaben der Trauerbewältigung definiert hat: Die Wirklichkeit des Todes begreifen, die Vielfalt der Gefühle durchleben, die Veränderung in der Umwelt wahr nehmen und gestalten und dem Toten einen neuen Platz zu weisen. Diese vier Aufgaben betrachtet sie im Lauf der Zeit: Unmittelbar nach der Todesnachricht, ein Jahr später, mehrere Jahre später. Zusätzlich geht die Autorin in einem gesonderten Kapitel auf die Reaktionen von Kindern und Jugendlichen nach einem Suizid ein.
Die Autorin ist dabei in der Lage, durch die eigene Erfahrung mit dem Suizid ihres Lebenspartners sehr gut das innere Erleben der Trauernden zu schildern: Die Entfremdung durch die Tatsache, dass bei einem Suizid die Polizei in den ersten Tagen die Regie übernimmt und eine eigene sinnliche Erfahrung wie das Aufbahren des Toten nicht möglich ist, die Tabuisierung des Themas Selbsttötung, die Schuldgefühle, die Hilflosigkeit und die Scham, die es vielen Trauernden erschwert, offen über das Thema zu sprechen. Sie führt auch ganz konkret die Hindernisse auf, die bei einem Suizid bei den verschiedensten Aspekten auftreten, wie Organisation der Bestattung, Kommunikation der Todesart, Umgang mit der Reaktion der informierten Menschen und weiteres.

Eigene Erfahrungen – eine zu enge Brille?

Die Autorin betont in ihrem Buch immer wieder, dass die Bewältigung eines Suizides im Normalfall mehrere Jahre benötigen wird. Das scheint bei ihr so gewesen zu sein, aber durch diese Vorannahme schließt sie andere Trauerprozesse aus, die einen Suizid schneller als nachvollziehbare Entscheidung akzeptieren können. So wird zum Beispiel die Selbsttötung eines Menschen, der an einer unheilbaren Krankheit leidet, von vielen Angehörigen als eine valide und nachvollziehbare Entscheidung angesehen, die sogar für alle Beteiligten eine Erlösung darstellt, da sie das Leiden vieler Menschen verkürzt. Diesen unter Umständen positiven Aspekt greift die Autorin nicht auf, sie geht grundsätzlich davon aus, dass die Angehörigen unter dem Entschluss zur Selbsttötung leiden müssten.
Zudem geht sie bei ihrem Zeithorizont davon aus, dass Trauerbewältigung gerade bei einem Suizid in mehr oder weniger allen Fällen mehrere Jahre benötigen wird. Dieses Paradigma steht allerdings im Widerspruch zu den neusten Erkenntnissen der Trauerforschung, die fest gestellt hat, dass Menschen selbst bei sehr belastenden Todesumständen in der Lage sind, diesen Verlust schneller zu bewältigen und zu integrieren – das Stichwort in diesem Bereich ist Resilienz; die natürliche Widerstandskraft des Menschen, die ihn befähigt, auch mit extremen Krisen recht schnell konstruktiv umgehen zu können. Die neuesten Forschungsergebnisse zeigen nämlich, dass Menschen selbst mit traumatischen Ergebnissen recht gut ohne Hilfe zurecht kommen können, wenn man ihrer natürlichen Resilienz genug Spielraum lässt.
Auch geht die Autorin von der Vorstellung aus, dass die Bindung an den verstorbenen Menschen gelöst werden müsse – und wieder sprechen die Ergebnisse der neuesten Trauerforschung gegen diese veraltete und empirisch nicht belegte Vorstellung. Denn es ist mittlerweile durch viele Studien erwiesen, dass die fortdauernde transzendierte Bindung an einen Toten nicht destruktiv und krankhaft sein muss, sondern für die meisten Menschen der natürliche Prozess ist, mit dem Toten eine neue Beziehung zu definieren.

Die Expertin spricht

Die Autorin ist Sozialpsychologin, die sich auf Trauerbegleitung spezialisiert hat, und das spürt man in ihrem Schreibstil. Ist sie auf der einen Seite in der Lage, die inneren Befindlichkeiten bestimmter Betroffener recht sensibel zu schildern, so pflegt sie auf der anderen Seite einen etwas dogmatischen Stil, der Expertenwissen als zu akzeptieren voraussetzt. Sie beschreibt ihre Überlegungen und Empfehlungen („Suchen Sie professionelle Hilfe“) in einer so engen Überzeugung, dass der Leser den Eindruck gewinnen muss, es sei so, und es gehe nur so. Das lässt unterschiedlichen Lebenswelten und Erkenntnissen wenig Raum, auf individuelle Vielfalt beim Trauerprozess ist die Autorin nicht eingestellt.
Das Buch enthält einige wenige Übungen, die der Leser durchführen kann, ist aber ansonsten wenig praxisbezogen. Wer als Leser Hintergrundinformationen sucht, was bei einem Suizid in einem betroffenen Menschen vorgehen kann, wird sicher einige erhellende Erkenntnisse gewinnen, wer aber praktische Hilfe sucht, die flexibel auf unterschiedliche Bedürfnisse eingeht, wird mit diesem Buch sicher nicht so gut bedient sein, da der Fokus der Autorin doch sehr eng und dogmatisch ist.
Gastbeitrag vom Bücherportal Leselupe.de
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